Nachtwächter

Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, seitdem es sich das letzte Mal gemeldet hat. Eine Ewigkeit, während der ich die Zeit auf einem Stuhl, dem WC oder einfach nur dem Boden verbracht und gewartet hatte. Langsam nähert es sich wieder, kriecht aus den hintersten Winkeln hervor und heischt erneut um meine Aufmerksamkeit. Es ist, als ob meine Milz mehr weiß als ich je ahnen könnte und sie mir dies auf schmerzhafte Weise mitteilen möchte. Doch ich habe schon lange aufgegeben ihre Rufe zu verstehen, und so richte ich mich von meinem jetzigen Platz auf, um in die Küche zu wanken. Vergebens, denn die Schachtel schmerzstillender Tabletten liegt schon längst nutzlos ihres Inhaltes beraubt neben dem halb vollen Wasserglas, direkt neben der Flasche und den Pillen, deren Inhalt ich nicht anzurühren wage.

Enttäuscht begebe ich mich zurück und ergreife auf der Suche nach Ablenkung die rettende Tageszeitung. Ihr Inhalt ist zwar auch schon seit Stunden veraltet, doch solange Radio und Fernseher nur eine mahnende Stille von sich geben bleibt mir ohnehin keine andere Wahl. Alsbald landet Seite für Seite ungelesen vor mir auf dem Tisch. Zum Lesen reicht meine Konzentration jetzt auch kaum mehr aus, und ihr Inhalt ist spätestens nach dem dritten Durchlesen so oder so keine Überraschung mehr. Zumal die meisten Artikel ohnehin alles andere als interessant waren. So sitze ich nun, starr die Muster auf der Zimmerdecke betrachtend, ausharrend wie jede Nacht zuvor.

Ein kurzes, aber kräftiges Klingeln reißt mich aus meinen nichtexistenten Überlegungen. Es ist jemand an der Tür... um diese Zeit?!?

Ich gehe hin und öffne wie unter Hypnose die Tür. Eine Dame, nicht ganz mittleren Alters und in dezenter, aber deutlich offizieller Uniform gekleidet, steht mir gegenüber. Sie begrüßt mich, indem sie mir eine gute Nacht wünscht und sich als Nachtwächterin dieses Wohnviertels vorstellt. Sie zögert nicht lange und fragt sie mich ohne Umschweife nach dem Grund dieses nächtlichen Umtriebs innerhalb meiner vier Wände. Wahrheitsgemäß antworte ich ihr, indem ich auf die Kopfwehtabletten verweise. "Vollständig angezogen?" hakt sie mißtrauisch nach, schnell den Widerspruch zwischen einem unerwartetem Aufwachen und meinem glattgebügeltem Hemd bemerkend.
"Wissen sie...," versuche ich zu erklären, "ich habe Angst im Dunkeln. Da möchte ich schon vorbereitet sein."

Vorerst scheint sie sich mit der Antwort zufriedenzugeben, und entsprechend gelassener verfolgt sie, wie ich zur Demonstration den Rest des abgestandenen Wassers in mich hineinschütte. "Es ist besser, wenn sie jetzt versuchen, weiterzuschlafen" setzt sie nach kurzer Pause an und sieht mich mit einer Mischung aus Wohlwollen und Fordern an. "Sie brauchen keine Angst im Dunkeln zu haben, da ist wirklich Nichts", errät sie meine Gedanken.
"Wieso? Können sie sich vorstellen, Angst im Hellen zu haben?" entgegne ich, meinen letzten Strohhalm erklammernd. Mit einem Seufzen gibt sie auf. Sie hat wohl erkannt, daß ich ein hoffnungsloser Fall bin. Um sie loszuwerden bitte ich um etwas zu Essen: Mein Kühlschrank sei leer und mit knurrendem Magen ist an den Rest der Nacht nicht zu denken. "Dann bringe ich ihnen etwas," verspricht sie, bevor sie sich verabschiedet.

Endlich bin ich wieder allein, allein um in Ruhe den Rest der Zeit genießen zu können, die mir so verhaßt ist. Im Moment hat weit und breit ohnehin kein Laden mehr offen, und so werde ich wohl auch diese Nacht vorerst weiterhin unbehelligt überstehen. Doch meine Hoffnung zerschlägt sich rasch, als sie wieder vor meiner Tür steht. Es war wohl ihre eigene Mahlzeit, die sie opfert, nur damit auch ich endlich meine Augenlieder ruhen lasse. Bevor sie geht bitte ich sie noch darum, mir Streichhölzer zu leihen, damit ich mir noch eine anstecken könnte. Sie reicht mir kommentarlos ein Feuerzeug, dann schaltet sie das Licht aus.

Im Dunkeln liege ich nun auf meinem Bett, langsam auf Tausend zählend, bis sie weit genug weg ist. Zum Glück hat sie nicht gemerkt, daß ich Nichtraucher bin. Ihr scheinbar banales Geschenk nutze ich stattdessen, um eine Kerze zu entfachen.
Gerettet, aber ich werde noch vorsichtiger sein müssen. Wie hat sie mich bloß bemerkt? Lange grüble ich darüber noch, nur eines ist sicher: In Zukunft werde ich nachts auf elektrisches Licht verzichten müssen...

Schaumraum, ein amüsanter Name für einen kleinen Laden, der neben all den großen Ketten auffällt und gerade deshalb als Geheimtip gilt. Jedenfalls gehört er zu den angesehensten Traumausstattern in unserer Stadt, und mit dezenter Zurückhaltung unterstreicht er diesen Anspruch hinter der stets polierten Fassade eines verglasten Neubaus. Ein beherzter Griff, und schon befinde ich mich mittendrin in seinem Inneren. Mit jedem Atemzug inhaliere ich die nüchterne Gemütlichkeit der verschachtelten Verkaufsräume, in deren Gewirr sich selbst zusammen mit Dutzenden von anderen Kunden stets das Gefühl des einzig wichtigen Kunden einstellt.

Schnell bietet mir ein persönlicher Traumberater seine Dienste an, und so äußern sich bald meine Wünsche. Ohne Liste, aber dafür wie auswendig gelernt sprudeln sie hervor: Von der klassischen Sorte soll es sein, nicht zu aufregend (Herzprobleme, sie wissen schon), mit mehreren Höhepunkten, aber keinesfalls mit unvorhersehbaren Überraschungen. Humorvoll darf es gern sein, aber keinesfalls zu anspruchsvoll und nicht zu platt.
Mein Berater nickt zustimmend, verschwindet hinter seinem Sekretär und fischt mit einem Handgriff ein dickes, stoffumsäumtes Buch hervor. Es sieht aus, als ob es geradezu nur auf mich gewartet hätte. Anhand dieses speziellen Buches stellt er mir diejenigen Träume vor, welche allesamt hervorragend meinem Wunsch entsprechen würden. Die Bilder dienen selbstverständlich nur der Illustration und der besseren Vorstellung wegen, denn jeder entwickelt schließlich seine eigene Phantasie.
Letztendlich fällt meine Entscheidung auf eine nostalgische Geschichte, in welcher jedoch auf meine Anforderung hin die vorkommenden Haustiere allesamt durch stubenreine Spaniel und eine emsige Haushälterin ersetzt werden. Danach entspricht es exakt dem, was ich gesucht habe, und der Berater bittet um etwas Geduld, bis die Ware in Handarbeit gefertigt vollendet sei.

Wenig später nehme ich die hübsch in Geschenkpapier und Schleifen verpackte Schachtel an, während mir der Verkäufer nochmals die absolut hundertprozentige Kundenzufriedenheit, langjährige Tradition sowie Erfahrung versichert und diskret auf den Ausschluß jeglicher Garantie hinweist. Sodann verlasse ich das Geschäft und begebe mich auf den Heimweg. Ein Blick auf die Uhr - jetzt verbleiben nur noch volle zwei Stunden, um sich herzurichten und auf den Weg zur Jubiläumsfeier zu machen. Immerhin ist wenigstens das Präsent besorgt, denn es ist besser, sein Wohlwollen durch ein Geschenk auszudrücken, so wenig der Beschenkte auch damit anfangen mag, als mit leeren Händen dazustehen.

Der Abend verläuft erfolgreich und ruhig, wenn man von den ewigen alten Seitenhieben der alljährlich selbigen Kandidaten untereinander absieht. Erschöpft sinke ich am Ende des Tages in mein Bett, erfüllt mit dem angenehmen Gefühl, es wieder einmal geschafft zu haben.

Zwei Tage später erreicht mich ein Anruf von Tante Bernigret. Mein Großonkel habe ausgesprochen schlecht geschlafen, sagt sie.

"Mama!", fleht Philipp unerbittlich, "Erzähl mir noch eine Geschichte!"
Wie jedesmal wartet er darauf, daß ich ihm seine Gute-Nacht-Geschichte erzähle, ohne die er nicht einschlafen kann.
"Also gut", erbarme ich mich, "welche möchtest du denn hören? Die mit den drei Enten am Teich oder die mit dem tapferen Prinzen und den goldenen Bergen?"

Mittendrin fällt er mir ins Wort, und es kommt was ich befürchtet habe: "Die mit den Geschwistern! Und der hutzligen Hexe!" kräht es aus ihm heraus. Dabei ist längst bekannt, wie sich die fürchterlichen Geschehnisse in diesem Märchen aus vergangenen Tagen auf die zarte Psyche des Kindes auswirken und dabei langanhaltende Alpträume verursachen. Doch sowas versteht mein Kleiner noch nicht, und meine Beteuerungen, daß er sie schon so oft gehört hätte und daß das nicht gut sei, prallen allesamt an ihm ab.

"Geschwister! Hutzelhexenhaus!" läßt Philipp nicht locker, bis ich nachgebe und sie ihm mit schlechtem Gewissen erneut erzähle. Die Geschichte mit den beiden Geschwistern, die sich im Wald verirren und dabei eine Spur aus Speiseeis hinter sich herziehen, welche von Vögeln gefressen werden, die einer alten Hexe gehören, welche ein Haus aus Kartoffelpuffern bewohnt. Und weil die Hexe böse ist und keine kleinen Kinder mag, sperrt sie die Beiden in ihr Haus ein, damit sie dort für immer gefangen sind. Die Geschwister sind aber nicht blöd und hauen stattdessen durch das Fenster ab. Das erschreckt die Hexe so sehr, daß sie die Treppe herunterfällt und von den Geschwistern im Keller eingesperrt wird.

"Und am Ende sind alle wieder gut zurückgekommen", versichere ich, decke Philipp zu und gebe meinem begeisterten Zuhörer einen letzten Gute-Nacht-Kuß, bevor das Licht ausgeht.

Doch im Dunkeln geschehen viele Dinge, und jedesmal wenn das Licht ausgeht fängt der Kaktus in der Küche an zu wachsen. Er wächst, bis seine Stacheln so lang sind, daß sie das Bett des Jungen umzingeln und auf den kleinsten Muckser warten, bevor sie zuschlagen. Jedesmal wenn er sich in Sicherheit wiegt, wächst das grauenhafte Stachelgewächs ein Stück weiter, während Philipp sich schweißgebadet windet. Doch auch diese Nacht hat er Glück, den kurz bevor sein letztes Stündchen geschlagen ist kommt die alte Hutzelhexe und schmeißt solange mit ihren Vögeln auf den Kaktus, bis er sich zurückzieht und sich geschlagen gibt. Bis zur nächsten Nacht, zumindest.

In ihrer Geschichte hat die Menschheit schon viele Ziele erreicht: Von der Eroberung der Neuen Welt über die Bezwingung der höchsten Berge bis hin zum Erreichen des Mondes und des nächsten Supermarkts ohne Sauerstoffmaske blieb ihr kein noch so fernes Ziel verschlossen.

Bis auf eines, und an diesem, der Urbarmachung des letzten unerreichten Terrains, forschen wir, genau hier im größten Welttraumforschungszentrum des ganzen Landes. Eine Tätigkeit, für die nur die Besten und Tatkräftigsten in Frage kommen, ausgewählt unter Vielen von den bekanntesten Schulen der Nation. Doch das Glück, hier zu arbeiten ist noch nichts im Vergleich zu dem, dies auch noch mit der schönsten und besten Mitarbeiterin, die man sich denken kann, zu tun.

Darf ich vorstellen? Miss Dr. Paula, Expertin für unterbewußte Lebenserfahrung in der fortgeschrittenen Tiefschlafphase. Zusammen mit mir leitet Sie den Bereich N3 schon seit über drei Jahren, und es waren die erfolgreichsten Jahre überhaupt. Paula, wie geht es denn unseren Schäfchen?
"Einfach hervorragend. Proband Nr.1 ist mitten in der Traumphase, wärend Nr.2 noch im Übergang liegt. Nr 3 und 4 sind im Übergang zu Abschnitt 3, Nr. 6 wird vorraussichtlich in zwei Stunden wieder nachtwandeln, ohne es zu wissen. Alterserscheinung, nichts Besonderes."
Insofern ein ganz normaler Arbeitstag. "Ah, sehr schön, hervorragend, wie geht es denn Nr.5?"
"Anomal. Die Werte liegen außerhalb üblicher Werte, und es sieht nicht so aus als ob sich das noch ändert. Bisher fehlt jedes Anzeichen eines normalen REM-Schlafs. Ansonsten gibt es keine äußerlichen Auffälligkeiten. Regulärer Testbeginn in einer Viertelstunde."
So etwas kommt vor, einige wenige Menschen scheinen die Nacht auf ganz andere Weise zu verbringen als es dem gängigen humanen Metabolismus entspricht. Entlassen wir ihn einfach, wie du schon sagtest, vorzeitig und verzichten auf die sonst durch ihn erzeugte Unruhe. In der Spätschicht sind dank eines ausgefeilten Terminplanes ohnehin nur noch zwei Mitarbeiter anwesend, nicht wahr Paula?
"Mag sein. Auf diese Weise ergeben sich jedenfalls erfreulich oft Gelegenheiten, um all den angenehmen Seiten unserer Tätigkeit nachzugehen. Und praktischerweise könnten unsere Vornamen genausogut unsere Nachnamen sein, ohne daß es jemand merkt. Stimmts, Walter?"

Mhmmm... ich liebe es jedesmal von Neuem, dieses zauberhafte Lächeln in so einem engelsgleichen Gesicht zu sehen. Es geht doch wahrhaftig nichts über eine anregende Unterhaltung nach einem langen Arbeitstag. Zumal wenn einem ohnehin viel zu wenig Zeit für ein breites Privatleben verbleibt, finden Sie nicht auch? Wie wäre es mit ein paar unbezahlten Überstunden? Natürlich ohne daß der Chef es merkt, wäre ja viel zu schade wenn das gute Refugium Nr. 5 so lange ungenützt bliebe. Bedaure, daß ich mich jetzt von Ihnen verabschieden muß - aber Sie sehen ja, wir haben hier noch sooooo viel Wichtigeres zu tun. Noch einen Sekt, meine Liebe?

Es gibt keinen Anfang, und es gibt auch kein Vorher. Alles, was ich weiß, ist meine plötzliche Anwesenheit hier, heute und an dieser Stelle. Sehen, hören und fühlen. An diesem Ort gelten keine anderen Gesetze mehr. Erfahrung ist jetzt alles, was zählt.

Lautlos steigen die kristallisierten Wölkchen bei jedem Atemzug nach oben, entschweben unhaltbar als einziges Lebenszeichen in dieser gefrorenen Welt. Einzig die eigenen Bewegungen lassen die kühle Luft unter die dünne Kleidung dringen. Aber sie genügt, um ausreichend geschützt zu bleiben, und eine wohlige Wärme stellt sich ein. Mit ihr findet sich, zugleich mit den Augen um sich tastend, der Weg durch die Gassen wie von selbst. Er führt mich hinaus in die Weite der Vorstadt.

Die Umgebung wandelt sich, von den zahlreichen Hinterlassenschaften der Stadt vorbei an verschieden dekorierten Schaufenstern hin zu bunt gemischten Vorgärten, gelegentlich garniert mit farbig glänzenden Plakaten für den Zirkus, schon vergangene Popkonzerte oder in Kürze stattfindende Feste. Letztere bleiben sicher unbesucht von den zahlreichen Gartenzwergen, die als kitschige Plastikhaufen in einigen Ecken die Einöde unterbrechen.

In einer wohl belebteren Gegend angekommen leuchten vereinzelt helle Lampen wie kleine Sonnen den Weg. Sie kommen mir entgegen, und ich entdecke, wie eine zappelnde Motte sich eine dieser Sonnen als Bestimmung ausgesucht hat. Mit ihrem zappelndem Flügelschlag wirkt sie mir sehr vertraut, sie ist wie eine enge Verwandte in dieser fremden Welt. Ruhelos umrundet sie weiter ihr Ziel, dem sie gebannt näher und näher kommt. Doch bevor ihre kläglichen Reste verglühen wird es dunkel, und weder die Lichter noch die Motte bleiben zu sehen.

Als sich die Augen an das spärliche Restlicht gewöhnt haben flattert das Insekt wie losgelöst vor mir herum. Als hätte sie nur auf mich gewartet, winkt sie mir mit ihren Flügeln noch ein Aufwiedersehen und setzt ihre Reise fort. Vorbei an zwei Schildern, einem noch halb belaubtem Busch, dem seltsam angemalten Haus an der Ecke hin zu den Bäumen im Park, wo eine Eule ihre Chance erkennt und sich ihre Zwischenmahlzeit nicht entgehenläßt. Mit einem Schmatzen verzehrt sie ihre Beute, und fliegt anschließend in dieselbe Richtung wie diese davon. Es hat sich wenigstens für dich gelohnt, großer Vogel, schweifen die eigenen Gedanken ab.

Meine Aufmerksamkeit wandelt sich zum Park hin, vorbei an lieblos gepflegten Spielplätzen und Teichen mit überfütterten Enten hin. Langsam, noch bevor es spürbar wird, beginnt die Dämmerung. Nach und nach erwachen auf den Dächern die Tauben, welche mit ihren monotonen Rufen den heraufziehenden Morgen begrüßen. Und je mehr ich ihren Stimmen lausche, desto mehr spüre ich, daß ich hier nicht sein sollte.

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