Cellularitis oder die späte Niederlage des Mr.Bell

von T$, veröffentlicht in TapMag 5

Als gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts (endlich darf man das jetzt sagen, ohne gleich von den Milleniums - Anfangsdatumssgurken angepflaumt zu werden) der Fernsprechapparat das Licht der Welt erblickte, war diesem kein großer Erfolg gegeben. Sämtliche Interessenten ließen es mit der Begründung, niemand hätte Bedarf daran, sich mit anderen über einen Draht zu unterhalten, links liegen.

Kaum beachtet und dennoch ganz vorne

Im Gegensatz dazu erfreuten sich sowohl das Radio als auch das Fernsehen bei ihrer Einführung größter Beliebtheit. Die ersten Besitzer eines entsprechenden Gerätes konnten sich sicher sein, zusammen mit der gesammten Verwandschaft und Bekanntschaft bei den ersten Sendungen ein gesellschaftliches Ereignis in den eigenen 4 Wänden zu haben (heute würde man das als Event bezeichnen, oder angesichts dessen Bedeutung gar als Mt. Eventerest).

Das sich in etwa zur selben Zeit ausbreitende Telefon wurde dagegen kaum öffentlich zur Kenntnis genommen. Es lies sich weder von mehreren gleichzeitig verwenden, noch klingelte es zu bestimmten Zeiten, war also als demonstrativ - funktionales Prestigeobjekt kaum brauchbar. Und wenn der Nachbar mal bei einem telefonieren wollte, so nützte einem das auch wenig, denn es gehört sich schließlich nicht, andere zu belauschen, zumal man dabei sowieso nur die Hälfte mitbekommen hätte.

Und so blieb weitgehend unbemerkt, daß es eine wesentlich größere Leistung ist, in jedem Haushalt eine eigene Telefonleitung zu verlegen und zusätzlich noch so zusammenzuschalten, daß sich Tausende ungestört gleichzeitig unterhalten können, als ein oder zwei Programme im Gießkannenprinzip zu verstreuen.

Das späte Ende

Winzig

Mit der Zeit hat sich das Telefon dennoch in den Alltag gemogelt und zunehmend Briefe und persönliche Treffen ersetzt. Endgültig erwachsen wurde das Telefon jedoch erst, als es seine Nabelschnur durchtrennte und nicht mehr an die Wanddose gekettet war.

Waren die ersten tragbaren Telefone und Autotelefone noch ein rarer Artikel, so war das handliche Mobiltelefon späterer Jahre dermaßen begehrt, daß sich sogar deren Attrappen in einer erklecklichen Zahl verkaufen ließen.

Mittlerweile ist das sogenannte Handy zu einer alltäglichen Erscheinung geworden, und mit ihm hat das Telefonat endlich seinen Weg in die öffentlichen Aufmerksamkeit gefunden. Weit verbreitet ist z.B. der abendliche Heimkehrer, der seiner Frau mitteilt, daß er in 3 Minuten endlich wieder Zuhause sein wird (und dadurch deren heimlichen Liebhaber entsprechend viel Zeit gibt, zu verschwinden. In diesem Fall zeigt sich auch die soziale, eheerhaltende Komponente dieser Entwicklung).

Dabei ist es gerade die permanente Verfügbarkeit, welche beweist, wie ungeeignet das Telefonieren zur Kommunikation ist, wie folgendes Beispiel zeigt:

(tüdelitütbiepbelip)
Hallo?
(nts, nts, nts, dischdischdischnts, nts, nts,...)
Hallo! Hörst du mich?
(bummbumm yoyoyoy dibi yoyoyoy buh-buh bumm)
Hallo? Haaallooooooo?
(yo dubbidubbi nts, nts bumm di nts, nts, nts,...)
(klick)
15 Minuten später:
(tüdelitütbiepbelip)
Hallo?
(wrrrrroooooooooommmmmmmm.... wrooooooo....)
Hallo! Hörst du mich?
(brrrrrmmmmmnnniiieedtsch MööP-MööP rmmmmmmbrmmmm....)
Hallo? Haaallooooooo?
(wroooooobrooooooormmmmmmbrwrmmmmmmm.....)
(klick)
Und nochmal 15 Minuten später:
(tüdelitütbiepbelip) Guten Tag, sie sind mit der Mailbox von...
ARRAGGRAAHHGRMBLFIX!

Fortschritt - mit negativem Vorzeichen

SMSDie fernmündliche Unterhaltung erfüllt den ihr zugedachten Zweck offensichtlich meist nicht. Aus diesem Grunde hat man die Kurznachrichten erfunden: Mitteilungen, die insgesamt nicht mal so lang wie ein gängiger Satz dieses Textes sein dürfen und von denen sowieso nur ein Viertel der Maximallänge genützt wird, da man eh zehn mal so lang zum Eintippen wie auf einer Tastatur braucht und mehr Text sowieso nicht auf das briefmarkenwinzige Display paßt. In diesem Sinne sind die Kurznachrichten auch den kognitiven Fähigkeiten der Hauptzielgruppe angepaßt, die sich außerdem eh nicht viel zu sagen haben.

Der Vorteil der Kurznachrichten beweist folgender erfolgreiche Dialog:

(tipptipptipp) - kommst du?
10 min später:
- wann?
(tipptipptipp) - jetzt
10 min später:
- wo?
(tipptipptipp) - hier
10 min später:
- wo hier?
(tipptipptipp) - wie immer
Da schon jetzt jedem Mitdenkenden die Effizienz dieses Verfahrens erkennbar ist, ersparen wir uns den weiteren Verlauf der Konversation.

Dank der Zeitschrift mit den dicken Buchstaben (nein, TAP.MAG ist nicht gemeint,... Wie? nein, der Hugi auch nicht...) existiert auch die Initiative für effizienteres SMSen: Haduluaueibi? Dubidodo! und der unbedarfte Beobachter denkt dann nur noch: Sind die jetzt völlig Gaga?

Eigentlich braucht man das Telefonino, wie die Italiener sagen, gar nicht, um sich miteinander zu unterhalten, sondern als Gadget für große und kleine Kinder. Dabei treibt der Spieltrieb besonders skurrile Blüten: Während selbst die neueste Bleistation und der ausgefeilteste 3D-Shooter kaum für längere Begeisterung sorgen, schaffen es die altbackenen Veteranen namens Tetris oder Nibbles stundenlang ihre neuen Fans an ein winziges Display zu fesseln, gegen das selbst ein Gamboy wie eine Kinoleinwand wirkt.

Passend dazu glucksen und gackern die Opfer der Cellularitis glücklich auf, wenn es ihnen gelungen ist, eine neue Melodie in ihr Mobiles einzutrichtern, dessen Klangqualität von jedem 5DM-Hongkong-LCD-Spiel oder -Telefonwartegedudel aus plärrenden Piezopiepsern bei weitem übertroffen wird. Was Wunder, daß die HiFi-Branche sich über mangelnden Umsatz beklagt, solange sie sich noch über den Klangfrevel namens MP3 beklagt.

Ebenfalls den Geist der Zeit verpaßt haben auch die Verfechter der Datenautobahn: Für die aus wenigen Schriftzeichen zusammengebastelten kruden Grafiken reicht selbst ein Datentrampelpfad mehr als aus. Wer hätte gedacht, daß ASCII-Art es gerade heute schafft, massenkompatibel zu werden, wo doch Blinken, Bunt und LAUT die Zukunft verkörperte?
In Kürze werden wohl auch Videos als Textzeichen übertragen, Matrix war nur ein erster Test...

Selbst die Kleinsten bleiben davon nicht verschont. War früher der Handy-Schlumpf ein kleiner handwerkender blauer Wicht, so versteht man heute darunter den völlig uninspiriert auf seinem Siemens herumtippenden Vorschulknirps, der noch nicht mal richtig sprechen, wohl aber SMSen kann.

Für euch alle gilt jedenfalls:
Ihr müßt euer Handygotchi immer gut mit SMS füttern, damit es auch groß und stark wird, schließlich ist es seit UMTS in seiner finanziellen Gesundheit stark angeschlagen. Und wenn ihr nicht mindestens die Hälfte eurer Zeit mit ihm beschäftigt, dann geht es ein und nur eine neue Chipkarte kann es dann wieder lebendig machen.

Mail an den Autor: webmeister@deinmeister.de

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